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AutorenbildRainer Leichtenberger

Winterdepression?

Im Moment hat es eine gewisse Konjunktur, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was

eine Winterdepression sei, bzw. ob man selbst eine habe. Die Gründe sind naheliegend, denn zum einen ist die Jahreszeit selbst für viele herausfordernd, und zum anderen spürt nahezu jeder eine Art von Erschöpfung, die man früher nicht von sich kannte.


Dazu möchte ich zunächst richtig stellen, dass es eine Winterdepression im engeren

Wortsinne nicht gibt. Zwar gibt es bei zu Depressionen neigenden Menschen eine

jahreszeitlich bedingte größere Herausforderung, aber von einer Winterdepression als

eigenständige Krankheit kann man eigentlich nicht sprechen.


Nun gibt es potentiell drei Möglichkeiten, dich mit deiner Erschöpfung auseinanderzusetzen:


  • Erstens, du googelst dir zurecht, ob deine Empfindungen und Wahrnehmungen doch Symptome einer Depression sein könnten. Ich würde dir das nicht empfehlen, denn alle Empfindungen und Wahrnehmungen werden nur in Bezug zu möglichen Krankheitssymptomen gesetzt. „Grundlose Traurigkeit“ könnte z.B. als ein depressives Symptom gewertet werden. Oft ist es aber nur eine Beschreibung dafür, dass jemand nicht mutig oder ernsthaft genug nach innen schaut und deshalb den inneren Bezug zu seiner Traurigkeit nicht entdeckt.

  • Zweitens kannst du darauf warten, dass die Sonne wieder scheint und du alleine deshalb schon wieder etwas zuversichtlicher auf dich und die Welt schaust.

  • Und schließlich hast du die Möglichkeit genauer in dich hineinzuspüren, warum du dich niedergeschlagen und kraftlos fühlst.


Ich möchte dich dabei auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die ich in diesem Zusammenhang für wesentlich halte.


Zunächst kann es hilfreich sein zu erkennen, warum der Winter für viele, und vielleicht auch für dich, so herausfordernd sein kann. Das hat nichts mit dem Wetter zu tun, sondern mit der Situation, dass das Leben des modernen Menschen keinen Rhythmus mehr kennt. Wir sind es so sehr gewohnt die Nacht zum Tag zu machen, im Winter Erdbeeren zu essen und im Sommer in die Skihalle zu gehen, wann immer uns eben nach diesen Dingen ist. Der moderne Mensch ist aktiv, immer. Deshalb müssen auch schon die Kinder neben ihrem Schulprogramm zum Hockey, Klavierunterricht und Aikido gefahren werden, damit sie später die besten Chancen haben und auf alles vorbereitet sind. Das ist insofern für die meisten schrecklich, weil jeder Mensch Momente der Besinnung braucht, des nichts-tuns. Nutzlos Zeit mit sich selbst verbringen. Oder um es mit Astrid Lindgrens Worten zu sagen: "Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“


Der Winter ist die Zeit, in der sich alle Säfte der Natur nach innen ziehen. Der Baum kommt zur Ruhe, harrt der Dinge um dann zur rechten Zeit die Energien wieder nach außen zu richten. Der vor-moderne Mensch blieb im Winter zu Hause, ging früh schlafen und hat Dinge in Ordnung gebracht, zu denen man nicht kam, wenn einen die Frühlingsenergie wieder beschäftigt hat. Überhaupt müssen die meisten Menschen immer beschäftigt sein. Wären sie das nicht, dann kämen sie in Kontakt mit den Gefühlen und verdrängten Lebensthemen. Lieber nicht. Zur Not gibt es ja auch noch Netflix.


Der moderne Mensch erträgt den Winter also so schwer, weil er mit seiner inne haltenden Natur zum anhalten auffordert. Anhalten bedeutet Langeweile, bedeutet unangenehme Gefühle, die schnell weg gemacht werden müssen. Das ist der eine Grund, warum Winter für viele schwer zu ertragen ist (gerne Ski zu fahren zählt nicht, weil das auch wieder ein Tun ist, dass einen in die Aktivität zwingt).


Ein weiterer Grund für die von vielen wahrgenommene Mattigkeit hängt u.a. auch damit zusammen, dass die Herausforderungen der vergangenen Jahre in Bezug auf Covid und die damit verbundene Angstpandemie tiefe kollektive Spuren in uns allen hinterlassen hat. Die Energie dieser Jahre war eine trennende. Nie sind so viele Beziehungen in die Brüche gegangen. Nie haben so viele Menschen ihre Erwerbstätigkeit als sinnlos und fremd empfunden. Und es ist noch nicht zu Ende. Es scheint so, dass alles, was nicht mehr stimmig ist, auseinander driftet. 

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Das alles kann man schnell mit einer Depression verwechseln. Manch einem wäre es sogar lieber, er bekäme endlich eine Diagnose, die scheinbar alles erklärt, um sich nicht mit der eigenen Ohnmacht auseinandersetzen zu müssen. Aber so einfach ist es nicht. Es ist eine gemeinschaftliche Herausforderung und es ist auch eine Chance des inneren und spirituellen Wachstums. Wer diese Herausforderung annimmt, wird am Ende gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

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