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Der Makel


Meine Freundin Käthe war an Krebs erkrankt. Neben den notwendigen Auseinandersetzungen mit dieser Krankheit (welche Therapie etc.) hat sie sich intensiv mit der Frage beschäftigt, ob dieser Krebs ein privates Schicksal ist, mit dem sie alleine zurecht kommen muss, oder ob es eine Erfahrung ist, die im Prinzip jeder kennt (als Betroffene*r, Angehörige*r, Freund*in,...) und die man teilt, mit der man sich zeigt. Sie hat sich für den zweiten Weg entschieden und den Mut aufgebracht, die ganze Auseinandersetzung damit in einem sehr persönlichen und berührenden Büchlein zu veröffentlichen mit dem schönen Titel Titel "Amanzonenpoesie". Ihre Geschichte ist zugleich auch überpersönlich. Es ist nicht alleine "ihre" Geschichte, sondern sie ist mit dieser Erfahrung auch Teil der Menschheitsgeschichte.

Neben den Bemühungen den Krebs zu überleben, hat jede klassische Therapieform auch immer Konsequenzen. Am Ende fehlt etwas, dass vorher noch da war. Es wurde in den Körper ein-gegriffen, sei es chirurgisch, chemisch oder durch Radiotherapie. Und selbst wenn es optisch nicht sichtbar ist, sind die Narben in der Regel tief.

Es gibt viele Möglichkeiten mit solch einer Lebenserfahrung umzugehen. Die gängigste ist die Rolle eines Opfers: "Das ist mir passiert", "warum ich...", "ich habe mich doch immer gesund ernährt...". Andere verzweifeln oder verdrängen, die nächsten kämpfen und meist ist es zu unterschiedlichen Phasen des Prozesses je ein Aspekt davon. Das ist natürlich und ok, aber die Opferperspektive hat eine schwerwiegende Konsequenz. Die Person empfindet sich nicht mehr als vollständig, oder "normal". Sie ist auf die ein oder andere Art gezeichnet. Sie hat einen Makel. Das unterscheidet sie von Anderen. Sie wird nie mehr sein, wie "die Anderen". Sie wird nie mehr sein wie vorher.

Das ist solange wahr, wie man sich mit dieser Rolle und dieser Geschichte identifiziert. Solange man glaubt, man sei eine Krebskranke, oder ein Krebskranker. Wir sind immer die Geschichte der Person, die wir über uns selbst erzählen. Und wir entscheiden uns, uns mit dieser narrativen Person gleichzusetzen. Dann sind wir nämlich, was wir über uns denken, fühlen und was wir körperlich erfahren. Das mag auf der Ebene des menschlichen Organismus plausibel sein und wir erleben ganz real die Auswirkungen unserer jeweiligen menschlichen Erfahrungen. Aber es ist zugleich auch unwahr. Nicht vollständig.

Ein Makel ist immer nur, was wir dafür halten.

Wir sind nicht was wir erfahren, wir sind auch nicht was wir erhoffen. Wir sind nicht einmal die Person, die wir glauben im Moment zu sein. Wir sind unendliches Bewusstsein, das sich in dieser Inkarnation körperlich manifestiert hat. Und wenn dieser Körper geht, dann ist das Bewusstsein immer noch da. Es bleibt sich seiner Selbst bewusst. Wenn wir uns dessen gewahr sind, dann können wir eine Krankheit als Mensch erfahren und sind gleichzeitig in unserem Kern davon nicht berührt. Irgendwann verlassen wir diesen Körper. Und bis dahin? Tja, so lange leben wir halt, so lange es eben dauert. So, wie wir in Wirklichkeit sind - makellos.

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