Für was stehst du?
Es ist an der Zeit sich zu positionieren. Nicht, ob du geimpft bist oder nicht, sondern wie du auf den anderen schaust, der sich anders entschieden hat als du. Wir erleben im Moment eine Verrohung des Mitgefühls und der Menschlichkeit. Solche Entwicklungen waren in der Vergangenheit Vorboten von tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen - und das nicht zum Besseren.
Wir verlieren dabei aus den Augen, dass keiner weiß, was das richtige Handeln ist. Nahezu alles, was man sich z.B. als positive Wirkung der Impfkampagne versprochen hatte, ist nicht eingetroffen. Das ist tragisch, weil so viele gehofft hatten, dass dann alles besser würde. Dass das nicht an den Ungeimpften liegen kann, zeigt z.B. ein Blick über die Grenze nach Dänemark: noch vor einem Monat war man dort stolz, mit einer nahezu vollständigen Impfquote zur "Normalität" zurückkehren zu können und jetzt gibt es wieder Beschränkungen, weil trotz der Impfdisziplin die Krankenhausbetten wieder voller werden und die Inzidenzen erneut steigen.
Das Tückische ist, dass es keine vergleichbaren Erfahrung gibt, die uns Orientierung geben könnten und das vergrößert die Angst. Die Entwicklungen haben sich längst jeder Steuerung und Kontrolle entzogen. Die menschliche Natur ist darauf ausgerichtet, alles zu vermeiden, was Angst erzeugt. Wenn man dem Geschehen nicht ausweichen kann, dann muss dafür gesorgt werden, dass die Gründe für die Angstentstehung reduziert, bzw. am besten ausgemerzt werden. Dafür braucht es verstehbare Theorien von Ursache und Wirkung, damit man wirksam handeln kann. Wenn man handelt, erhofft man sich wieder Kontrolle über die Dinge zu gewinnen und in Folge eine Reduktion der Angst zu erreichen.
Aber das funktioniert bei dieser epischen Krise nicht. Es funktioniert auch deshalb nicht, weil es so etwas wie Kontrolle über das Leben, und auch das Überleben, nicht gibt - das hat es in Wirklichkeit noch nie gegeben. Das Furchtbare ist für die allermeisten Menschen, dass sie sich mit dieser Wahrheit auseinandersetzen müssten, aber sie keine Erfahrung oder Orientierung dabei haben, wie man sich solchen existenziellen Gefühlen innerlich nähert, ohne in noch größere Angst oder gar Panik zu verfallen.
Denn darum geht es im Kern: die Auseinandersetzung mit der Todesangst als Chance, das Geschenk des Lebens in seiner Großartigkeit zu begreifen und wertzuschätzen zu lernen.
Das ist das zentrale Thema. Alles andere ist Ablenkung und Trance.
Es gibt noch eine weitere Ebene und diese scheint mir im Moment noch dringlicher zu sein, als die Konfrontation mit der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Es geht darum, wie du innerlich ausgerichtet bist in Bezug auf das Leben und die Menschen, mit denen du diese Erde teilst. Welche Werte bestimmen dein Leben? Welche Haltung nimmst du ein, vor allem, wenn es unsicher und unklar wird? Sind Werte beliebig je nach Umstände, oder gelten sie gerade dann, wenn durch die Aufregungen im Außen die innere Orientierung droht verloren zu gehen?
Mitgefühl, Liebe und Freiheit, um nur ein paar mögliche Beispiele für eine innere Ausrichtung zu nennen, sind nicht teilbar. Es ist kein Mitgefühl, wenn du den einen schützen möchtest und dafür den anderen verdammst. Es ist keine Liebe, wenn dir das Leid einzelner zu Herzen geht und du diejenigen ausgrenzt, die deine Überzeugung nicht teilen. Es gibt keine Freiheit, wenn sie nicht auch die Freiheit aller anderen ist (wie Rosa Luxemburg dies schon vor 100 Jahren erkannt hat).
Wenn wir bei schwerem Sturm bereit sind unsere Werte zu opfern, dann waren sie bestenfalls Ideen, die uns für eine bestimmte Zeit nützlich waren, mit denen wir unser idealisiertes Selbstbild geschmückt haben. Sie haben keine Substanz, die wir folglich dann auch selbst nicht haben. Wir werden zu dem sprichwörtlichen Rohr im Wind. Es ist an der Zeit eine Entscheidung zu treffen: lässt du dich von der Angst bestimmen und dem falschen Versprechen, dass es wieder Sicherheit und Kontrolle gibt, wenn alle nur das gleiche täten, oder orientierst du dich an deinem inneren Kompass.
Das ist es, was den Mutigen unterscheidet: zu sich und seinen Werten in schwierigen Zeiten zu stehen, obwohl man Angst hat.
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